WG35 – Briefentwurf an Alma Mahler
Toblach, Freitag, 5. August 1910

Es ist wol merkwürdig
daß ich nicht eine Spur von
Haß gegen ihn empfinde.
Ich habe meine Empfindun-
gen genau revidiert, sie
sind ein Gemisch von Achtung
tiefem Mitleid und – Scham.

 Deinem Botengänger, dem
Bauernjungen bin ich begegnet
und fragte ihn – es war eine
Eingebung – ob er für die Frau
zur Post gegangen sei –

 Ich will nicht hundert
sondern tausend Erscheinungen
Meilen machen, um Deine
süße Erscheinung nur eine
Sekunde zu sehen

 Fotograf neben Hotel Germania

Ich weiß ja jetzt erst, wie
ich mich auf dieses Wieder-
sehen gefreut hatte

____
an der kleinen Tannenhecke
unterhalb des Kruzifixes bei
einem weißen Grenzstein habe
ich gestanden

___
Bei der großen Lärche schräg
hinter Deinem Schlafzimmer.
noch einmal auf dem Tannenweg
sieh die Lärche

Könntest Du nicht jetzt,
wo der Verrat nicht mehr
schlimmeres bringen
kann, einen Vertrauten
suchen, der Dir die Briefe
holt? oder Brauerei?

___
hier sind schöne Menschen
im Hotel – aber was fehlt
Ihnen [!] nicht alles gegen Dich,
Du unendliche

______
Diese Glockenblumen habe
ich unweit von Eurem Haus
gepflückt

____
Deinen entdeckte ich beim
Friseur, dann habe ich ihn
lange verfolgt, es trieb mich
zu ihm mit einer \unheimlichen/
magnetischen Kraft.


Apparat

Überlieferung

, , , , , .

Quellenbeschreibung

3 Bl. (3 b. S.) – Viertel eines Papierbogens.

Druck

Erstveröffentlichung.

Korrespondenzstellen

keine.

Datierung

WG war am Abend des 4. August 1910 in Toblach angekommen, reiste am 6. August mit dem Mittagszug (AM27 vom 3. September 1910) wieder ab und verbrachte am Vormittag vor seiner Abfahrt noch Zeit mit AM.

Da WG in diesem Briefentwurf berichtete, er habe beim Friseur entdeckt und lange verfolgt, scheidet sowohl der Abend des 4. August, den WG nach langer Anreise mit der Beobachtung des Trenkerhofes verbrachte (s. WG32), als auch der 6. August, der Abreisetag, aus, woraus sich der 5. August 1910 als Datierung ergibt.

Themenkommentar

Übertragung/Mitarbeit


(Marie Apitz)
(Jannik Franz)


A

Deinem Schlafzimmer – Eine Zeichnung von auf der Rückseite von () zeigt den Grundriss eines Dachgeschosses mit Schlafzimmern von , und (Gucki), wahrscheinlich den Trenkerhof, das Feriendomizil der Familie Mahler in Altschluderbach bei Toblach, s. Themenkommentar: Über das Wesen des Kunstwollens.

B

Brauerei – s. WG33 vom 4. auf den 5. August 1910.

C

Hotel – Aus dem Umschlag von AM12 vom 5. August 1910 geht hervor, dass im Toblacher Südbahnhotel abgestiegen war.

D

Glockenblumen – Möglicherweise legte die besagten Glockenblumen dem endgültigen Brief bei, so wie er zuvor einem Brief Rosenblätter beigelegt hatte, s. WG15 vom 23. Juli 1910: Rosenblätter. Auch AM9 vom 28. Juli 1910 lagen Edelweißblüten bei.

E

Friseur – vgl. , S. 764 und , S. 871 sowie Themenkommentar: Die Umstände des Krisentreffens.